Franz Schubert

Raymond Swing (1999)

 ZUR "WINTERREISE"  

VON FRANZ SCHUBERT

Der Liederzyklus "Winterreise" von Franz Schubert ist wohl der meist unmittelbarste musikalische Ausdruck für das, was die Philosophen Entfremdung nennen, das schnell in der Periode nach der Französischen Revolution zum sozialpsychologisches Problem wurde. Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus. So lauten die ersten Zeilen der ganzen „Winterreise“. Damit ist das Thema angegeben, klar und unmissverständlich.

    Der Traum des jungen Bürgertums um eine bessere Gesellschaft wurde bald in Enttäuschung gekehrt. Stockte man früher mehr oder weniger in alten sozialen Mustern von Gutsherrn und Bauern und auch von Bürgern und Gesinden, dann versprach die Revolution nun „Freiheit, Gleichheit und Brüderschaft“. Alle sollten die gleichen Möglichkeiten haben um „sich selbst zu realisieren“, freie Initiative zu entfalten und überhaupt, jeder seines Glückes Schmied sein. Und natürlich selbst die Früchte des eigenen Einsatzes ernten können. Also die Bürger…

    In Wien waren solche Möglichkeiten zwar anders als in Paris, und die Situation wurde nicht weniger widersprüchlich, nachdem der Freiheitsheld Napoleon sich selbst zum Eroberungskaiser ernannte. Nach der Volksschlacht bei Leipzig in 1813, wo Napoleon geschlagen wurde, schloss sich deshalb das Bürgertum seiner eigenen feudal-nationalen Reaktion an, eben die Heilige Allianz mit all ihren Spionageunwesen, das sich gegen diese Bürger selbst richtete. Und so wurde es bald mit der „Freiheit“ knapp.

    Jedoch war der Traum von der Freiheit geweckt, auch wenn die Wirklichkeit nur selten dem Traum entsprach. Einigen gelang es sich aus dem alten Gesellschaftsmuster hinauszuarbeiten, andere mussten andere Wege gehen, um für sich „Gleichheit“ und „Brüderschaft“ zu finden. Und noch andere wurde von sozialen Ausscheidungsrunden getroffen –, und damit waren sie also ganz außen gestellt.

 Der Ausgestoßene

Genau ein solcher Ausgestoßener ist die Hauptperson in Wilhelm Müllers "Winterreise". Junger Mann, scheinbar mit allen Möglichkeiten fürs Leben, Liebste, Aussicht auf festes Einkommen, Ehe usw. Und trotzdem ausgestoßen, unangepasst, heimatlos, herumschweifend, ganz ohne Ziel. Bei Schnee und Kälte. Die Kettenhunde der Höfe bellen ihn an, wo er vorwärts kommt. Im Gepäck nur Enttäuschung. Nicht einmal der Friedhof mag ihm Heimat leisten. Nichts fehlt ihm, nichts zum Sterben. Er ist nur in seiner Seele krank. Also muss er die traurige Wanderung fortsetzen bis er endlich zum Spiel des Drehorgelspielers seine Lieder singen kann.

    Dies ist die „Handlung” des aus vierundzwanzig Nummern bestehenden Zyklus, die Franz Schubert 1827 vertonte – und die etwas am meist eingelebten ist, was derart überhaupt geschrieben ist.

    Kein Wunder, dass diese Lieder der so reichhaltigen, deutschen Liedtradition so geschätzt sind. Keine äußere Bravour, kein Exhibitionismus der Operszenen. Dagegen fordern sie die höchste Beherrschung der Stimme, Klarheit, Stärke im Ausdruck. Dazu eine gefühlvolle Begleitung am Klavier – kurz, diese Lieder stellen die allerhöchsten Anforderungen an jeden Sänger, der mit seinem Gesang etwas Außerordentliches will.

    Dieser arme, verschmähte Liebhaber mit dem großen Herzen und Weltschmerz – ist er vielleicht Schubert selbst, der seine verlorene Liebe beweint, dieser begabte und angeblich ewig verliebte, junge Mann, der am Ende die Syphilis bekam? Oder geht es „nur“ um das allgemeine Los der Menschen in der sich wandelnden Gesellschaft, von dem die Ich-Person oder Schubert selbst so realistisch singt. Ein Bürgersohn (zwar von niedrigeren Kreisen), dem das Schicksal ein besseres Leben hätte gönnen sollen?

    Der Hintergrund der ganzen Sache sind die „Schubertiaden”. Hier spielte, tanzte und amüsierte man sich, las vor und diskutierte Gedanken und Dichterwerke der Zeit. Schubert selbst traktierte das Klavier, eines der zart gebauten Instrumente der Zeit für häusliche Musik innerhalb der eigenen vier Wände. Und auch Schuberts Freund Vogel mit seiner schönen Tenorstimme und die großen Armbewegungen war natürlich dabei, der sich auch gerne zur Schau stellte.

 

Vogel beim singen, Schubert am Klavier

Widersprüche der Tradition

Nach dem Tod Schuberts wurde diese Tradition weitergeführt in den Bürgersalons und den Konzertsälen, heute natürlich von Weltsängern mit äußerst geschulten Stimmen – sich laut kundgeben und mit der einen Hand leicht an dem großen Steinwayflügel stützend...

    Es gibt hier etwas, was einfach nicht ganz stimmt! Leute kommen in ihren besten Anzügen und die Konzertkarten waren teuer. Man gibt sich zum Zauber der Töne hin, leidet mit dem „Helden“ – und klatscht begeistert, wenn alles vorüber ist. Dann fährt man nach Hause, wo alles schön und geborgen ist, zum köstlichen Abendkaffee, und wo täglich warmes Essen auf dem Tisch serviert wird. Hier kann jemand nichts Bösen ausgesetzt sein.

    Ist das nicht, wie es sein sollte – alles in Ordnung? Gewiss. Und trotzdem gibt es einen unlösbaren – und in diesem Fall unumgänglichen – Widerspruch des ganzen Kulturlebens, ein Widerspruch zwischen Form und Inhalt. Nein, das ist kein Fehler Schuberts – und gar nicht nur sein Problem. Es ist das Problem eines großen Teils der ganzen bürgerlichen Kunsttradition.

 

Heimatlosigkeit

Das Thema dieser Lieder ist also Entfremdung, ausgestoßen zu sein, Heimatlosigkeit und tiefe Trauer. Die Geschichte als solche erzählt von der äußeren Seite dieses traurigen, ziellosen Lebens – was sonst?

    Vierundzwanzig Lieder lauter Nabelschau wären jedoch nicht erträglich: „Ach, alles ist doch so traurig…“, „Ach, mein verlorener Traum von Liebe…“, „Ach, all dies und das…“ Das wäre wirklich nur zum Spaßmachen – !

    Ja genau, wirklich nur zum Spaßmachen.

    In den Müller-Liedern, "Die schöne Müllerin", Schuberts früherer Liedzyklus aus 1825 von dem jungen Müllergeselle, der Handwerksgeselle auf seiner Wanderung, dessen Geliebte den grünen Jäger bevorzugt, und der – genau wie das Mühlbächlein selbst – keine Ruhe finden kann. Bevor er sich aus lauter Kummer, also sich selbst, in dessen Mühlbach stürzt.

    Der Text war von dem gleichen Wilhelm Müller, in der Tat jedoch geschrieben, nur um die ganze sentimentale Bürgermusik zu verulken. Ganz buchstäblich! Schubert jedoch entfernte das Grinsen, lebte sich wie kein anderer ins tragische Schicksal dieses Müllergesellen ein und schrieb so seine Lieder mit vollem Ernst.

    Der Inhalt der „Winterreise” ist in der Tat der gleiche, bloß noch mehr in sich gekehrt, noch schwärzer. Alles Äußere ist auf ein Minimum reduziert, alles Gefühlsmäßige umso aufdringlicher gestaltet. Anderseits auch umso besser geeignet, den Mitleid des wohl angepassten Bürgertums mit all dem, wogegen es selbst verschont wurde, zu wecken.

    So wunderschön vom Podium vorgeführt ist das Unglück fast ganz erträglich. Alles passend fern und fremd, man braucht sich also nicht selber, betroffen zu fühlen. Mindestens nicht gerade bedroht…

 

Heimliche Gemütlichkeit

Aber die musikalische Form als solche – ? Die Form ist das „deutsche Lied“, ein mehr oder weniger variierter strophisch aufgebauter Sologesang mit Klavierbegleitung. So ist diese Musik den Möglichkeiten der Schubertiaden und – trotz den hier größeren Anforderungen – der Hausmusik der Bürgerheimen schönstens angepasst.

    Hier wurde es nämlich „guter Ton”, dass man – und besonders die Töchter – ein bisschen Klavierspielen lernte, um zeitgenössischer Klaviermusik gefühlvoller Art pflegen zu können (Nocturnen waren die für die meisten ausführbare Modestücke der Zeit). Solche Musik wurde im Falle "Winterreise" zu einem großen Widerspruch.

    Denn worum geht es also in diesen Liedern – ganz konkret? Wer ist in Wirklichkeit dieser unglückliche, wandernde Geselle, dieses im frühen neunzehnten Jahrhunderts und weiterhin so allgemein gültige Exemplar desillusionierten Bürgertums, das wegen seiner Unangepasstheit, so ganz überflüssig fürs Leben in der zeitgenössischen Gesellschaft und so ein so schräges Licht über die ganze Romantik in Kunst und Literatur wirft – und uns somit die unumgängliche Rückseite der neuen Freiheit anzeigt?

    Man könnte aber ganz konkret fragen: Wer von den Teilnehmern der Schubertiaden damals und vom Publikum großer Liedkonzerte heute kennt all dies so ganz persönlich?

    Unmittelbar vielleicht gar nicht sehr viele – aber sicher viel mehr unter den Teilnehmern der Schubertiaden als von den Konzertgängern heute. Allein die Preiskosten der Karten werden sichern, dass dieses Publikum meistens aus Leuten der Sonnenseite des Lebens besteht. Doch im Innern werden sich vielleicht doch einige betroffen fühlen, tragen sie heimlich ähnliche Seelenwunden – auch wenn sie es nicht gern gestehen möchten.

    Aber glücklicherweise sitzen wir nun hier in geborgenen Umgebungen und wissen genau, was kommt. Und es ist ja „nur“ Kunst, etwas Geschmackvolles zum Genießen, vielleicht auch eine Träne zum Zertrümmern oder sogar ein wenig zum Gruseln. Aber doch, wir sind eingedeckt: Alles was hier vorgeht, widerspricht all solchen Problemen – oder mindestens verschleiert sie in annehmbarer Weise. Alles ist ja so schön und gut verborgen. Seht mal diese tüchtigen Künstler, die alles nur zur Vollkommenheit beherrschen. Hier kann wirklich nichts Unerwartetes passieren – und gar nichts Tragisches.

    Nein, unser trauriger Wandergeselle und der Drehorgelspieler am Schluss existieren nicht. Reine Phantasie. Einfach schöne „Kunst“.

 

Rückseite des Medaillons

Oder tun sie es doch? Ist die Phantasie Müllers und Schuberts doch so frei und unwirklich, wie wir es gern haben möchten? Heute – heute vielleicht mehr als je – hätten wir klüger sein sollen. Wir treffen ja unseren Wandergesellen jeden Tag auf der Straße. Die Tütenfrau, der Heimatlose oder Geisteskranke einfach vom System aufgegeben, vergessen. Der im ganz buchstäblichen Sinne Entfremdete, Ausgestoßene.

    Nein, Gott sei Dank – daran brauchen wir nicht zu denken, wenn wir Schubertlieder hören. Aber doch: Genau diese Leute sind ja eben das zeitgenössische Modell unseres „Helden“. Soziales Ausstoßen ist kein neues Phänomen hier zu Lande (auch nicht in Dänemark, England, Frankreich, Österreich, USA usw.). So etwas passiert überall und zu allen Zeiten. Nur ist es weitergeführt – und durch allgemeine Abmontierung unserer „Wohlfahrt“ verstärkt. Sprechen wir von persönlicher Freiheit, gehören die Ausgestoßenen mit zum Bild. Sie zeigen uns die Rückseite des Medaillons. Heute deutlicher als je zuvor. Im Innern schämen wir uns vielleicht doch ein bisschen über diese Umstände – genießen dann aber umso mehr das Ganze in Form von Kunst.

    Aber warum nicht die Konsequenzen daraus ziehen: die Wirklichkeit der Kunst in der Kunst selbst zu zeigen? Unser Held von der "Winterreise" als Tütenfrau, als Heimatloser, Geisteskranker, einer, von dem wir nichts zu erwarten haben? Wie wäre es dann nur einmal von der ganzen, feinen Kulturstaffage abzusehen, die der Kunst so innerlich gehört?

    Also, nur einmal: Hin mit dem berühmten Sänger mit seinen schönen CD-Einspielungen, mit allem Medienschrott und den großen Honoraren. Dahin mit dem Klavier, das sowieso unlösbar mit der Bürgerstube verbunden ist und so mit ihrer lauen Gemütlichkeit und den Nocturnen. Lass uns den Mann in seiner Leibhaftigkeit erscheinen, der Vagabund, Saufkumpane, der Mondkranke mit seinen Luftspiegelungen… Und lass uns auch seinen letzten Gefährten mitbekommen, der Drehorgelspieler – oder, wäre es nicht möglich, die Begleitung auf der Drehorgel zu spielen, dann mindestens auf dem Schiffsklavier oder dem Akkordeon…

    Ich hätte gern das Zetergeschrei gehört, das sich bei einer solchen Aufführung der „Winterreise“ erheben würde! Ein wohltuendes Geschrei einer Gesellschaft, die ihre eigene Wirklichkeit leibhaft vom Podium vorgeführt zu sich kommen sah – sogar von der am meist Geliebten aller Kunstarten entschleiert, die „abstrakte“ romantische Musik.

    Das würde schockierend sein. Aber lehrreich.

    Sozialrealismus mit bekannten Tönen!

    Insofern würde diese Vorführung auch in ihrer äußeren Form ihren eigentlichen Inhalt zur Schau stellen – als Beitrag einer politischen Auseinandersetzung. Das würde zwar einen außerordentlich tüchtigen – und gut singenden – Schauspieler fordern, ein echter Künstler, und der Schiffsklavierspieler müsste mindestens seine Prüfung von der Musikhochschule gut bestanden haben. Solche Forderungen künstlerischer Wahrheit zu erfüllen – natürlich treu dem Original gegenüber – würde wirklich künstlerische Leistung fordern. Aber es wäre bestimmt einen Versuch wert…